Mittwoch, 8. Mai 2013

Der Irre bin ich, der irrt auch.

Jeder Mensch hat eine Vorstellung davon was der Wahnsinn ist oder wie er aussieht. 
Im positiven Sinne  hat dies zur Folge, dass Menschen ein Problembewußtsein dafür entwickeln, welche individuellen Verhaltensweisen einem lebenswerten Leben entgegen stehen können. Dem eigenen Leben oder dem anderer. Im negativen Sinne führen diese Vorstellungen aber zu Stigmatisierung und dies vor allem, wenn psychische Probleme nicht in ihrem gesellschaftlichen Kontext gelesen werden.
Ich bin sehr froh, mich mit diesem Thema zu und in verschiedenen Etappen meines Lebens beschäftigt zu haben und dies auch immer noch tun dürfen. Die Freiheit nehme ich mir. Sozusagen. Oder wurde sie mir auferlegt? Ich kann mich noch erinnern, wie man als Mensch aus dem Dorf Treskow, mit der zwischen Treskow und Neuruppin liegenden Nervenheilanstalt in Verbindung gebracht wurde. Je nach Gehässigkeit war dies konotiert mit einer Unterbringung oder der Tätigkeit (zumindest der Verwandtschaft, weil ich ja ein Kind war) in dem Klinik Komplex.
Ich glaube, mich hat das nicht so sehr geärgert. Auch weil ich mir über die Dimension der dahinter liegenden Zuschreibungen keine Vorstellung machen konnte aber auch, weil das Krankenhaus dann doch zu weit weg war. 
Oder aber auch nicht. Die junge Frau L., die bei meiner Oma in einem quasi Fronenarbeitsverhältnis stand, war eine der Verrückten aus dem Irrenhaus, die stundenweise meine Oma besuchte und für sie im Garten und Hof arbeitete. Und dies fast Tag für Tag. Für mich war L. die liebevolle Gehilfin meiner Oma, die meine Schwester und mich, Schnatterinchen und Pitiplatsch nannte. Also nach den Figuren des Sandmanns der DDR. Hätte das Leben von L. damals schöner sein können? Bestimmt. Ist es das heute? Ich hoffe, weiß es aber nicht.
Was ich sagen will, ist, dass der Wahnsinn in seiner pathologischen Form bei uns zu Hause ein und aus ging. Später machte ich ein Praktikum in der Kinder und Jugendpsychatrie. Während des Studiums habe ich, wie es sich für Gesellschaftswissenschaftler_innen gehört, Überwachen und Strafen gelesen und auch die Beschäftigung mit Freud und Konsorten kam nicht zu kurz. Hätte aber sicherlich auch intensiver ausfallen können. Insofern hat sich bei mir durchaus ein Problembewußtsein vor allem für die politische Dimension der verschiedenen Auseinandersetzungen mit dem Wahnsinn entwickelt. Zu den mächtigsten Diskursen mit entsprechenden politischen Praxen, gehören sicherlich der medizinische und diesem quasi diametral gegenüberstehend, der populäre Diskurs der Allgemeinplätze oder auch des Allgemeinwissens. Ob damit aber das Verständnis bezüglich eben jener politischen Dimension ebensoweit entfernt liegt, darf und sollte ruhig bezweifelt werden.
Ohne das hier belegen zu wollen, lässt sich zunächst feststellen, dass der Boom der Neuro(-pseudo-)wissenschaftlichen Perspektive durchaus seinen Niederschlag in der öffentlichen Meinung gefunden hat und als dominierend bezeichnet werden muss. Für den populären-medialen Bereich vlt. in einer abgemilderten Form, weil ja das Gute bekanntlich immer in der Mitte der Extreme zu finden ist. Aber bei gleichzeitiger Anerkennung eben jener wissenschaftlichen und "dennoch" problematischen Prämissen.
Anlass einer (auch dieser) gegenwärtigen Auseinandersetzung ist die Veröffentlichung des Handbuches DSM-5.
Hier zunächst 1, 2, 3, 4 Quellen einer gängigen Kritik. Diese beschäftigt sich, um es kurz runter zu brechen, immer um das richtige Maß der klinischen oder medikamentösen Behandlung aber selten bis nie mit den theoretischen Vorraussetzungen und den folgenden Implikationen, noch um die gesellschaftlichen Ursachen einer wie auch immer gearteten "Disfunktionalität".
Es bleibt also die Frage dominant, was Normal/Natürlich ist (und somit auch was nicht). Dabei könnte ja sowohl das Kranke wie das Gesunde, das Verrückte wie das Normale als ein Teil eben jener Natürlichkeit (oder auch Zwangsläufigkeit) gesehen werden.
Ein fundamentaler Schritt in ein solches bessere Bewußtsein hat die Psychoanalyse beginnend mit Freud getan, in dem sie herausstellte, dass der Normalzustand im höchsten Fall ein Zustand ist, der theoretisch zu bilden wäre aber nicht zu erreichen ist. Ein Leben ohne Verletzungen und Kränkungen ist nicht zu machen und wäre auch nicht wünschenswert. Was nicht bedeutet, dass ein besseres Leben nicht möglich und eine aktualisierte Kritik nicht notwendig wäre. Das ganze Gegenteil ist der Fall aber auf der Grundlage eine ideologie-kritischen Analyse.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Medien wie Tagesschau.de einen Zustand beschreiben aber weder erklären noch wirklich hinterfragen können.
"Überproportional betroffen sind nach Angaben der Forscher Kinder besonders junger Eltern, Kinder von Eltern mit geringerem Bildungsniveau und Kinder von Geringverdienern.                                                                                                                   In bildungsnahen Haushalten werde über Ritalin eher kritisch nachgedacht. " 1
 Alleine diese Nachricht bietet soviel Sprengkraft, das sie locker für eine Stunde Gesprächsstoff bieten würde. Zum einen ist es interessant, dass die Praxis einer nicht näher bestimmten Schicht/Klasse anscheinend aus einem Mangel an kritischen Bewußtsein agiert und nicht z.B. an Möglichkeiten der Teilhabe. Gleichzeitig wäre interessant zu schauen ob die (ich nenne sie hier einmal) untere Mittelklasse der Techniker Krankenkasse, zu mindest im Bereich des kulturellen Kapitals schon zum gehobenen Mittelstand gezählt werden kann, im Gegensatz zu allgemeinen Krankenkassen wie AOK etc. Wo möglicherweise festzustellen wäre, das eben jene Klasse gar nicht mehr in den "Genuss" einer medikamentösen Behandlung kommt und sie wenn dann, tatsächlich lediglich der Ruhigstellung dient. Im Fall der TK und ihrem Klientel ist die Medikamentierung wahrscheinlich tatsächlich noch der Hoffnung entsprungen, den Abstand zur jeweils höheren Klasse quasi mechanisch zu verkleinern. Das dies vlt. dem/der einzelnen hilft aber nie einer Klasse an sich, dass nur so nebenbei.
Der Aspirant, die Aspirantin ist bei einem gelungenen Aufstieg dann aber wenigstens mit dem Vorwurf eines unkritischen Gebrauchs von Psychopharmaka konfrontiert.

Eine Linke Kritik ( es gibt sie Gottlob ;-) – hier z.B. in einem sehr lesenswerten Spezial der Jungle World 1, 2 und 3 – hat mir eigenen Problemen zu kämpfen. Denn bspw. aus der richtigen Analyse, wie hier von Roger Behrens:
"Das individuelle Empfinden korreliert mit der ärztlich-klinischen Diagnostik, den sozialen Normen, den öffentlichen Erwartungen und den Vorstellungen der anderen, schließlich auch mit dem ökonomischen Leistungsprinzip und der »gesunden« Bereitschaft, sich diesem möglichst störungsfrei und reibungslos zu unterwerfen."
, ließe sich auch ein Zwang zum Leiden ableiten. 
Auch wer in dem vermehrten Gebrauch von Medikamenten lediglich die Interessen der Pharma-Industrie gespiegelt sieht, verkennt unter Umständen den erhöhten Bedarf an diesen Medikamenten, respektive der veränderten Arbeitsbedingungen und Anforderungen. Sicherlich nicht den allgemeinen Zusammenhang, wie dies landläufig geschieht, aber vlt. doch die quantitativen historischen Unterschiede.
Sehr interessant ist übrigens, wie Tjark Kunstreich in seinem Artikel versucht die psychoanalytische Idee von der Wiederkehr des Verdrängten, am Beispiel der biologischen Psychatrie darzustellen. Diesem Kreislauf aber zu entgehen, braucht es zumeist der Gewalt einer äußeren kritischen Instanz. Von der biologischen Psychatrie ist dies nicht zu erwarten.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

http://datacide.c8.com/psychiatry-social-hygiene-and-mind-control/